Gesundheitliche Versorgung erwachsener Betroffener von häuslicher
und sexualisierter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern

Ein Leitfaden für die medizinische Praxis
 

Gesprächsbereitschaft signalisieren

Die Mehrzahl der von Partnerschaftsgewalt Betroffenen befürwortet das aktive, einfühlsame Nachfragen durch einen Arzt oder eine Ärztin. Gewaltbetroffene Personen empfinden es oft als Erleichterung, wenn sie nicht selbst auf die Ursachen ihrer Verletzungen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu sprechen kommen müssen, sondern gezielt und vorsichtig befragt werden.

 

Wenn die gewaltbetroffene Person Gewalterfahrungen bejaht:

  • Bieten Sie eine sichere und ungestörte Umgebung (Vier-Augen-Prinzip). Ermutigen Sie die Person, darüber zu sprechen.
  • Hören Sie offen und unvoreingenommen zu.
  • Vermitteln Sie, dass Sie das Problem ernst nehmen.

 

Wenn die gewaltbetroffene Person Gewalterfahrungen verneint:

  • Achten Sie weiter bewusst auf Anzeichen von Gewalt.
  • Stellen Sie Anzeichen von Fremdeinwirkung fest, benennen Sie diese und stellen Sie spezifische Fragen.
  • Auch wenn die Patientin oder der Patient verneint, sollten Behandelnde und Pflegende ihren Verdacht dokumentieren und Informationen über Hilfsangebote geben.


Bieten Sie gegebenenfalls ein zweites Gespräch an, eventuell mit einer Begleitperson. Glauben Sie der betroffenen Person! Gewaltbetroffene Frauen schildern eher nicht das gesamte Ausmaß des Tatgeschehens.


Nicht alle Patientinnen oder Patienten möchten über mögliche erlebte Gewalt reden. Es bleibt die Entscheidung der oder des Betroffenen, wann für sie oder ihn der geeignete Zeitpunkt für ein Gespräch über die Gewalt ist.

 

ACHTUNG FALLSTRICK! Unterlassen Sie es, den gewalttätigen Partner auf die Situation anzusprechen!

 

 

 

Gespräch führen

Nicht jede gewaltbetroffene Person will oder wird Ihre Hilfe annehmen. Hören Sie zu, ohne zu urteilen, und sehen Sie die betroffene Person als Expertin bzw. Experten in der eigenen Situation. Akzeptieren Sie ihr Verhalten.


Nachfolgende Beispielformulierungen können Ihnen das Gespräch erleichtern:

  • „Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber ich kenne solche Verletzungen auch als Folge von Schlägen […].“
  • „Ich kann mich irren, aber diese Verletzung sieht nicht nach einem Sturz […] aus.“
  • „Ich habe den Eindruck, dass […]“
  • „In meiner Wahrnehmung haben Sie sich in den letzten Monaten verändert, Sie wirken […].“
  • „Über Ihr Gewalterleben können Sie – wenn Sie möchten – mit mir vertrauensvoll sprechen. Ich habe Erfahrung mit Problemen durch Gewalt, ich kann Sie – wenn Sie möchten – beraten und auch weitere Informations- und Unterstützungsstellen benennen.“
  • „Ich kann die bei Ihnen feststellbaren Formen und Folgen von Gewalt dokumentieren und Ihnen ein Attest ausstellen. Sie entscheiden darüber, was Sie an Hilfe und Unterstützung benötigen.“

Für ein Gespräch mit gehörlosen Betroffenen oder einer Person mit geringen Deutschkenntnissen ziehen Sie eine professionelle Übersetzungsfachkraft hinzu. Vertrauen Sie der betroffenen Person, geben Sie ihr eine ehrliche Rückmeldung über den belastenden Charakter der traumatischen Situation.

Beantworten Sie die Fragen der betroffenen Person in Ruhe und weisen Sie auf Ihre Schweigepflicht hin.

Vermitteln Sie der betroffenen Person, dass ihr geholfen werden kann.

Informieren Sie über geeignete Unterstützungsangebote. Sprechen Sie mit der betroffenen Person über die Bedeutung gerichtsfester Befunde.

Klären Sie das Schutzbedürfnis und die akute Gefährdung der betroffenen Person und gegebenenfalls ihrer Kinder.

ACHTUNG FALLSTRICK! Bedrängen Sie die betroffene Person nicht, insbesondere nicht zu einer Anzeige gegen den Täter oder die Täterin!

 

 

 

Untersuchen

Sorgen Sie für eine ungestörte Untersuchungsatmosphäre. Fragen Sie die betroffene Person, ob sie zur Untersuchung bereit ist, bevor Sie beginnen. Insbesondere bei gynäkologischen Untersuchungen können negative traumatische Gefühle wieder hervorgerufen oder verstärkt werden. Schnell durchgeführte professionelle Handlungen können das Gefühl auslösen, wieder Objekt zu sein. Helfen Sie der betroffenen Person, ihr Gefühl der Selbstbestimmung über sich und ihren Körper zurückzugewinnen und ihre Angst und Scham zu überwinden, indem Sie ihr genau erklären, welche einzelnen Schritte der Untersuchung notwendig sind und warum.

Erforderlich ist eine gründliche Untersuchung des gesamten Körpers. Auf Verletzungen in unterschiedlichen Heilungsstadien müssen Sie besonders achten.


Zur Dokumentation von Verletzungen und Erkrankungen lesen Sie weiter unter "Dokumentation von Verletzungen".

 

ACHTUNG FALLSTRICK! Die Verordnung von Psychopharmaka sollte nur im Ausnahmefall erfolgen, da die Gefahr der Abhängigkeit und damit die Stabilisierung der Gewaltbeziehung besteht!

 

 

 

Sicherheit beachten


Das Ziel jeglicher Intervention bei häuslicher oder sexualisierter Gewalt besteht im Schutz vor weiterer Gewalt.


Fragen Sie die betroffene Person nach ihrem aktuellen Schutzbedürfnis: Hat sie Angst, nach Hause zu gehen? Wird sie weiter bedroht? Sind ihre Kinder in Sicherheit und versorgt? Braucht sie eine sichere Unterkunft bei Freunden, Verwandten
oder im Frauenhaus?


Zeigen Sie Schutzmöglichkeiten auf, aber respektieren sie die u. U. auch ablehnende Entscheidung. Weiterhin beachten Sie zum Schutz der betroffenen Person und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihrer Einrichtung Folgendes:

  • Vermeiden Sie das ungewollte Zusammentreffen der betroffenen Person mit dem Täter oder der Täterin in der Praxis/auf der Station. 
  • Finden Sie Möglichkeiten, mit der betroffenen Person unter vier Augen zu sprechen (z. B. beim Röntgen, Hinweis auf Privatsphäre).
  • Geben Sie keine Informationen über die betroffene Person und deren Kinder, insbesondere über den Aufenthaltsort, an den Täter oder die Täterin weiter. Sprechen Sie mit der betroffenen Person ab, welche Informationen an den gewalttätigen Partner bzw. die gewalttätige Partnerin bei einer eventuellen Suche nach der betroffenen Person gegeben werden sollen.
  • Stellen Sie Überlegungen an, auf welchen Wegen die betroffene Person die Praxis/Station sicher und unbemerkt verlassen kann.
  • Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Praxis/Station müssen über das Schutzbedürfnis der von Gewalt betroffenen Person und die Gefährlichkeit des Täters oder der Täterin informiert sein, damit keine Schutzlücken entstehen.
  • Lassen Sie begleitende Kinder nicht alleine im Wartezimmer sitzen (Entführungsgefahr!).
  • Bei Aggressivität des Täters oder der Täterin in der Einrichtung sollten Sie deutliche Grenzen setzen. Verhandlungen und Gespräche mit ihm oder ihr signalisieren dagegen Toleranz der Gewalt. Im Zweifelsfall rufen Sie die Polizei.
  • Bei Eskalation oder im Notfall fordern Sie Begleitschutz von der Polizei für den Rückweg der gewaltbetroffenen Person an.

Beachten Sie die Risikofaktoren für das Ausüben schwerer körperlicher Gewalt. Achten Sie darauf, wenn Ihnen die gewaltbetroffene Person von folgenden Sachverhalten berichtet:

  • frühere Fälle häuslicher Gewalt
  • frühere Fälle außerhäuslicher Gewalt
  • tätliche Person wurde bereits verhaftet/verurteilt
  • tätliche Person hat betroffene Person bedroht, z. B. mit Verletzung oder Tod
  • tätliche Person hat betroffene Person eingesperrt
  • betroffene Person äußert Furcht oder Sorge über zukünftige Angriffe
  • Konsumiert der Täter oder die Täterin Alkohol oder Drogen und zeigt er oder sie unter deren Einfluss gewalttätiges Verhalten?
  • Wurde die Patientin während der Schwangerschaft angegriffen?
  • Gibt es Faktoren, die die Patientin oder den Patienten davon abhalten, Hilfe zu bekommen, wie fehlende Transportmöglichkeit, Kinder, kein Telefon, Kontrolle der Sozialkontakte durch den Täter oder die Täterin, eigenes Drogen- oder Alkoholproblem?

 

 

Informieren und Weitervermitteln

In vielen Fällen brauchen die Betroffenen weiterführende psychosoziale Beratung und Unterstützung oder einen sicheren Aufenthalt im Frauenhaus. Sie können geeignete Informationsmaterialien an die gewaltbetroffene Person weitergeben. In einigen Fällen ist es sinnvoll, der oder dem Betroffenen anzubieten, von der Praxis/Station aus zu telefonieren oder dass Sie den Kontakt zu einer geeigneten Unterstützungseinrichtung selbst herstellen. So wird die oder der Betroffene entlastet und Hemmschwellen werden überwunden. Die Weitervermittlung entlastet auch die Ärztinnen und Ärzte bei der Unterstützung der gewaltbetroffenen Person. Auch Sie können dort die Möglichkeit der anonymisierten Beratung für Ihr weiteres Handeln in diesen Fällen nutzen.

ACHTUNG FALLSTRICK! Zu einer Ehe- und Paartherapie sollten Sie nicht raten, sie ist grundsätzlich ungeeignet. Die Verantwortung für die Gewaltausübung liegt bei der tätlichen Person. Getrennte Einzelberatungen können zur Stärkung der verletzten Person und zur Verhaltensänderung der Tatperson beitragen.

In Mecklenburg-Vorpommern werden unterschiedliche Unterstützungsangebote für Betroffene von häuslicher und sexualisierter Gewalt, aber auch für gewalttätige Männer vorgehalten. Die Adressen, Telefonnummern und eine Karte von Mecklenburg-Vorpommern finden Sie hier. Das Hilfenetz ist landesweit ausgebaut und umfasst die im Folgenden vorgestellten Angebote:

Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt und Stalking

Interventionsstellen gegen häusliche Gewalt und Stalking leisten Krisenintervention und bieten proaktiv kurzfristige Beratung für gewaltbetroffene Frauen und Männer an. Im Anschluss an einen Polizeieinsatz wird die zuständige Interventionsstelle
von der Polizei automatisch per Fax benachrichtigt. Durch die Beraterin wird schnellstmöglich Kontakt zur gewaltbetroffenen Person aufgenommen. Die Interventionsstelle bietet psychosoziale Beratung und rechtliche Unterstützung auch für die Kinder in den Familien an. Die Beratung findet in der Regel in der Interventionsstelle oder an einem anderen geschützten Ort statt. Die Beratung ist vertraulich und kostenlos.
siehe Download Unterstützungseinrichtungen

Frauenhäuser

Frauenhäuser bieten Frauen und ihren Kindern rund um die Uhr Sicherheit und Schutz. Es besteht auch die Möglichkeit, in ein Frauenhaus zu flüchten, wenn das Opfer trotz polizeilicher Maßnahmen oder gerichtlicher Anordnung vom Täter weiter bedroht wird. Die Adressen sind anonym. Die Kontaktaufnahme geschieht telefonisch. Die Beraterin vereinbart einen Treffpunkt mit der Frau oder holt diese ab. Die Mitarbeiterinnen bieten Beratung und Unterstützung an. Für die Unterbringung fällt eine Nutzungsgebühr an, die bei geringen/keinem Einkommen übernommen wird.
siehe Download Unterstützungseinrichtungen

Beratungsstellen für Betroffene von häuslicher Gewalt


Das ambulante Angebot der ländlich gelegenen Beratungsstellen für Betroffene von häuslicher Gewalt ist eine längerfristige Beratung und richtet sich an weibliche und männliche Opfer häuslicher Gewalt. Die Beratung kann anonym (telefonisch), persönlich (in der Beratungsstelle) oder als aufsuchende Hilfe angeboten werden. Ebenfalls wird eine Nachbetreuung ehemaliger Bewohnerinnen des Frauenhauses angeboten. Die Beratung ist vertraulich und kostenlos.
siehe Download Unterstützungseinrichtungen


Fachberatungsstellen für Betroffene von sexualisierter Gewalt


Die Fachberatungsstellen für Betroffene sexualisierter Gewalt bieten Frauen, Männern, Jugendlichen und Kindern psychosoziale Unterstützung und Beratung an. Das Angebot richtet ich auch an Familienmitglieder, Vertrauenspersonen, Erwachsene und an professionelle Helferinnen und Helfer. Die Beratung ist vertraulich und kostenlos.
siehe Download Unterstützungseinrichtungen


Die Männer- und Gewaltberatungsstellen bieten gewalttätigen Personen Hilfe auf dem Weg in ein gewaltfreies Leben an. Die Kontaktaufnahme soll in der Regel durch den gewaltausübenden Teil erfolgen. Die Beratung ist vertraulich und kostenlos.
siehe Download Unterstützungseinrichtungen